„Ich dachte, ich werde bei der Bundeswehr zum Mann“

Die Welt, 02. September 2021, Sabine Menkens und Leoni Gau

Zwischen sieben und neun Prozent aller neuen Rekruten sind beim Dienstantritt noch minderjährig. Ihre Erwartungen sind oft hoch – die Abbrecherquoten auch. Mehr als ein Viertel hört schon in der Probezeit auf. Die Gründe sind vielfältig. Drei junge Männer erzählen.

Wenn Max M. sagen soll, was ihn daran gereizt hat, als 17-Jähriger nach dem Schulabschluss bei der Bundeswehr anzuheuern, fällt ihm als Erstes etwas Profanes ein: das sichere Geld. „Das war auch etwas, das meine Mutter die ganze Zeit betonte. Du hast jetzt acht Jahre einen sicheren Job. Das ist super. Mach das.“

Schon sein Vater und sein Onkel seien bei der Bundeswehr gewesen, erzählt M. – dass er es ihnen nachtat, habe sich
folgerichtig angefühlt. Auch für sich persönlich erhoffte er sich einiges von der Armeezeit: „Ich dachte, dass das Leben jetzt richtig anfängt und ich dort zum Mann werde.“
Eine Erwartung, die schnell enttäuscht wurde, als er nach der dreimonatigen Grundausbildung zum Sanitätsdienst kam. „Meine Einheit war dafür zuständig, den ganzen Tag lang Quarantäne-Zelte auf- und wieder abzubauen. Ich wollte aber Sanitäter werden und kein Materialbeauftragter, der in der Logistik arbeitet. Ich fühlte mich betrogen“, sagt Max M. Sein Problem anzusprechen, wagte er nicht. Stattdessen setzte er sich zu seiner Großmutter nach Berlin ab – um kurz darauf von
Feldjägern wieder zurück in die Kaserne eskortiert zu werden. Nach der zweiten Fahnenflucht musste M. für zwei Wochen in die Arrestzelle. „Es war ziemlich krass. Ich hatte nichts, kein Fernsehen, kein Handy. Das Einzige, das in dieser Zelle lag, war eine Bibel, die mich eigentlich überhaupt nicht interessierte.
Trotzdem las ich sie in dieser Zeit zwei Mal durch.“ Einen Monat später verließ Max M. die Bundeswehr vorzeitig.
Ein Schritt, den überdurchschnittlich viele jung rekrutierten Soldaten gehen. Das zeigen Zahlen aus dem Bundesver-teidigungsministerium, die der CDU-Abgeordnete Frank Heinrich erfragt hat und die WELT vorliegen. Gerade unter den minderjährigen Rekruten sind die Abbrecherzahlen hoch.
Im Jahr 2019 etwa wurden 1705 junge Männer und Frauen unter 18 Jahren eingestellt; 467 gaben ihren Dienst bereits
in der sechsmonatigen Probezeit auf. Ähnlich ungünstig war das Verhältnis in den Jahren zuvor. 2018 gab es 464 Probezeit-Kündigungen unter den 1679 minderjährig eingestellten Rekruten; 2017 war das Verhältnis 584 zu 2126, im Jahr zuvor 588 zu 1910 und im Jahr 2015 444 zu 1511. Im Corona-Jahr 2020 wurden insgesamt weniger minderjährige Rekruten eingestellt; von den 1148 Neuanfängern gaben 236 in den ersten sechs Monaten auf.
Doch auch nach den sechs Monaten Probezeit bleibt die Abbrecherquote hoch, wie es in dem unter anderem von der Kinderrechteorganisation Terres des hommes herausgegebene „Schattenbericht Kindersoldaten 2019“ heißt.

Demnach verlässt sogar der Großteil der minderjährig rekrutierten Soldaten die Bundeswehr vor Ablauf der regulären Dienstzeit. „Aus unserer Sicht ist das eine Lose-lose-Situation, sowohl für die jungen Menschen als auch für die Bundeswehr, die erhebliche Ressourcen in die Ausbildung steckt“, sagt Ralf Willinger, Kinderrechtsexperte bei Terre des hommes und Sprecher der Kampagne „Unter 18 nie! – Keine Minderjährigen in der Bundeswehr“.
Die Einstellung Minderjähriger bei der Bundeswehr ist seit Jahren umstritten. Nach einem Fakultativprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention gilt für die Streitkräfte eigentlich ein Mindestalter von 18 Jahren. Die Bundeswehr macht allerdings wie einige der 171 Vertragsstaaten von der Ausnahmeregelung Gebrauch, auch schon 17-jährige Freiwillige zu Ausbildungszwecken zu rekrutieren – wenn die Eltern zustim- men. Die Jugendlichen dürfen zwar nicht in kriegerischen Konflikten oder im bewaffneten Wachdienst eingesetzt werden, erhalten aber eine herkömmliche militärische Ausbildung. Inzwischen sind zwischen sieben und neun Prozent der neuen Rekruten beim Dienstantritt minderjährig.
„Mit einer umfassenden Aufklärung und Beratung zu den Chancen und Risiken des Soldatenberufs und einem intensiven, wissenschaftsbasierten und eignungsdiagnostischen Assessment-Verfahren stellt die Bundeswehr darüber hinaus sicher, dass nur 17-Jährige eingestellt werden, die sich eingehend mit den Anforderungen des Soldatenberufs auseinandergesetzt haben und die erforderliche Eignung aufweisen“, teilt das Verteidigungsministerium mit.

Dass das nicht in jedem Fall gelingt, zeigt das Beispiel des heute 19 Jahre alten Janne M. Schon in der achten Klasse hatte er sich für eine Laufbahn bei der Bundeswehr entschieden – animiert durch die YouTube-Werbeserie „Die Rekruten“. Mit sechzehneinhalb sprach er beim Karrierecenter der Bundeswehr vor. Dass die Entscheidung verfrüht sein könnte, kam ihm damals nicht in den Sinn. „Stattdessen dachte ich: Wenn ich jetzt zur Bundeswehr gehe, habe ich starke Aufstiegschancen und kann richtig Karriere machen, weil ich noch so jung bin.“ Letzten Endes aber warf Janne M. bereits nach einer Woche in der Probezeit hin. „Jeden Morgen war ich nervös vor dem Tag, hatte Bauchschmerzen und konnte nichts essen — immer mit dem Gedanken im Kopf, gleich wieder angeschrien zu werden. Außerdem konnte ich durch diese Grundanspannung nicht mehr richtig schlafen. Ich wusste, dass ich funktionieren muss, und hatte Angst, es nicht zu tun.“
Inzwischen hat Janne M. ein Freiwilliges Soziales Jahr absolviert und beginnt demnächst eine Ausbildung. Die psychischen Belastungen im Militärdienst sind durchaus hoch; auch das geht aus den Antworten des Verteidigungsministeriums auf die Fragen des Abgeordneten Heinrich hervor. Das Ressort verweist auf eine epidemiologische Feldstudie des Psychotraumazentrums (PTZ) sowie der Technischen Universität Dresden, in der zwischen 2009 und 2013 Prävalenzraten psychischer Erkrankungen in der Bundeswehr erhoben worden waren. „Dabei ergab sich eine 12-Monatsprävalenz psychischer Erkrankungen von ber 20 Prozent sowohl bei Einsatzteilnehmenden (21,4 Prozent), als auch bei Soldatinnen und Soldaten ohne Einsatz (22,5 Prozent)“, heißt es in der Antwort.
„Das Inanspruchnahmeverhalten spezifischer Therapie war dabei gering (10-20 Prozent) und belegt somit eine hohe Dunkelziffer, der die Bundeswehr mit Aufklärungskampagnen und niederschwelligen Hilfsangeboten intensiv begegnet.“ Ein fortlaufendes Ansteigen der Fallzahlen sei daher als positiver Effekt dieser Bemühungen zu werten. Alerdings verzeichnete die Bundeswehr zwischen 2018 und 2020 auch 167 Suizidversuche sowie 50 vollendete Suizide; unter letzteren Fällen war eine minderjährige Person.
Zudem gab es im Zeitraum 2018-2020 insgesamt 848 Verdachtsmeldungen in der Kategorie „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ oder sonstige Formen sexueller Belästigung, wie das Verteidigungsministerium mitteilt. In 17 dieser Verdachtsmeldungen wurden minderjährige Soldatinnen oder Soldaten als Betroffene geführt; in fünf dieser Verdachtsfälle richtete sich der Anfangsverdacht gegen Vorgesetzte der möglicherweise betroffenen Minderjährigen.
„Die Daten belegen ein großes Ausmaß an Risiken und Schäden, denen minderjährige Soldatinnen und Soldaten ausgesetzt sind und zeigen sehr deutlich, dass auch die Bundeswehr – wie alle Armeen – kein Ort für Minderjährige ist und die Rekrutierung Minderjähriger dringend gestoppt werden muss“, fordert Kinderrechtsexperte Willinger.
Auch Sebastian S. hatte bei der Bundeswehr mit psychischen Problemen zu kämpfen. Er hatte sich von ansprechender Werbung zur Truppe locken lassen: „Die Kampagne war stark auf dieses Abenteuerliche, Wilde ausgelegt. Sie
vermittelte dir, dass du als Soldat absolut männlich und kämpferisch sein würdest. Damals sagte mir das zu.“ Die Grundausbildung sei auch eine „wirklich schöne Zeit“ gewesen, sagt S. Dann aber folgte der Alltag in einer Kaserne „im Nirgendwo mitten im Wald“. Ein, zwei Stunden am Tag habe er etwas zu tun. „Den Rest des Tages hing ich nur rum.“ Eine Perspektivlosigkeit, die S. als belastend empfand. Ebenso wie die strengen Hierarchien und den herablassenden Umgangston. Mental und körperlich sei es ihm im Laufe der Zeit immer schlechter gegangen, bis im Frühjahr dieses Jahres die Einweisung ins Bundeswehrkrankenhaus kam. „Dort wurde festgestellt, dass ich eine durch Stress ausgelöste Vorstufe von Schizophrenie entwickelt habe.“ Mithilfe von Medikamenten hat S. seine psychischen Probleme inzwischen in den Griff bekommen. Auch seine vierjährige Dienstzeit will er noch beenden. Der Preis, den er gezahlt habe, sei hoch gewesen, sagt S. Aber er habe auch viel über sich gelernt. „Ich bereue die Entscheidung nicht.“