Hintergrund

Im Jahr 2022 traten 1.773 Minderjährige ihren Dienst bei der Bundeswehr an, 2020 waren es 1.148 gewesen. Seit dem Aussetzen der Wehrpflicht 2011 hatte sich die Zahl Minderjähriger bei der Bundeswehr verdreifacht. Besonders stark stieg dabei die Zahl der minderjährigen Soldatinnen, die sich seit 2011 fast verachtfacht hat. Im Jahr 2023 ist diese Zahl erneut stark angestiegen, es wurden 1.996 Jugendliche im Alter von 17 Jahren rekrutiert – ein Anstieg um 13 Prozent gegenüber dem Vorjahr und der zweithöchste Wert bisher. Darunter waren 315 Mädchen. Mehr als jeder zehnte (10,6%) neueingestellte Soldat oder Soldatin war 2023 minderjährig, dies ist prozentual der höchste Wert bisher.

In der Praxis betrifft dies freiwillig Wehrdienstleistende sowie Soldatinnen und Soldaten auf Zeit, die als 17-Jährige eine militärische Ausbildung bei der Bundeswehr beginnen. Sie werden dort an der Waffe ausgebildet und erhalten dasselbe militärische Training wie Erwachsene. Sie werden mit erwachsenen Soldaten zusammen untergebracht, das Jugendarbeitsschutzgesetz und der gesetzliche Jugendschutz werden in der Bundeswehr nicht eingehalten. Es gibt keine besonderen Schutzmaßnahmen bis auf zwei Ausnahmen: Sie werden noch nicht in Auslandseinsätze geschickt und machen keinen bewaffneten Wachdienst.

Nach Ablauf der sechsmonatigen Probezeit können die minderjährigen Soldatinnen und Soldaten ihre oft langjährigen Arbeitsverträge nicht mehr kündigen. Bleiben sie der Bundeswehr fern, machen sie sich als Deserteure strafbar.

Aggressive Werbung

Die hohe Zahl minderjähriger Soldatinnen und Soldaten in der Bundeswehr ist das Ergebnis einer aggressiven Werbung der Bundeswehr in Schulen, bei Abenteuer- und Sportevents, bei Ausstellungen und Messen, Vorträgen in Jobcentern, Arbeitsagenturen und Berufsinformationszentren. Bei diesen Veranstaltungen wirbt die Bundeswehr insbesondere bei Jugendlichen zwischen 15 und 17 Jahren. Über Medien wie Facebook, Snapchat oder Instagram wirbt die Bundeswehr ebenso wie auf YouTube, wo Clips wie „Die Rekruten“ oder „Mali“ als Abenteuer-Serien daherkommen, aber die Risiken von Kriegseinsätzen verschwiegen werden.

Seit Jahren wächst die Kritik an dieser Rekrutierungspraxis. Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes, der die Einhaltung der UN-Kinderrechtskonvention überprüft, hat Deutschland schon mehrfach aufgefordert, das Rekrutierungsalter auf 18 Jahre zu erhöhen und jegliche militärische Werbung bei Minderjährigen zu verbieten. Dies fordern auch die Kommission zur Wahrnehmung der Belange der Kinder des Deutschen Bundestages (vgl. Kommissionsdrucksache 18/16) ebenso wie zahlreiche zivilgesellschaftliche, gewerkschaftliche und kirchliche Akteure.

Die Rekrutierung von Minderjährigen wird selbst von Verantwortlichen in der Truppe kritisch gesehen: Dem jüngsten Bericht des Wehrbeauftragten zufolge fühlen sich viele Vorgesetzte mit der zuletzt immer weiter gestiegenen Zahl an minderjährigen Soldatinnen und Soldaten überfordert. Den Minderjährigen müsse eine besondere Fürsorge zukommen, weswegen sie für viele Aufgaben nicht eingesetzt werden könnten. Zudem müsse in vielen Fragen die Erlaubnis der Eltern eingeholt werden.

Kinderrechte werden verletzt

Viele der fundamentalen Rechte und Schutzgarantien für Minderjährige, zu denen sich Deutschland mit der Unterzeichnung der UN-Kinderrechtskonvention verpflichtet hat, werden bei der Bundeswehr verletzt.[1] So waren beispielsweise in den Jahren 2017 und 2018 minderjährige oder gerade volljährig gewordene Soldatinnen und Soldaten bei der Bundeswehr von sexualisierten Ritualen, sexueller Belästigung und Vergewaltigung betroffen.[2] Bei militärischen Übungen der Bundeswehr kommt es auch immer wieder zu schweren Verletzungen und Todesfällen.[3]

Diese Fakten machen deutlich: Eine Armee ist kein Platz für Kinder und Jugendliche – auch die Bundeswehr nicht. Die große Mehrheit der Staaten weltweit – 151 Länder – verzichtet entsprechend komplett auf die Rekrutierung minderjähriger Soldaten. Nur 46 Armeen weltweit rekrutieren noch Minderjährige, darunter nur wenige EU- und NATO-Staaten. Und unter diesen wiederum gibt es nur drei, die Minderjährige noch in großen Zahlen (über 500 pro Jahr) rekrutieren: USA, Großbritannien und Deutschland. Deutschland schwächt damit wesentlich den internationalen 18-Jahre-Rekrutierungs-Standard (Straight 18) und gibt ein schlechtes Beispiel ab.

Es wird höchste Zeit, dass auch Deutschland endlich diesen internationalen 18-Jahre-Standard einhält. Wer sich für die weltweite Ächtung des Einsatzes von Kindersoldaten und die Stärkung der Kinderrechte einsetzt, kann nicht gleichzeitig Minderjährige in die Bundeswehr einziehen.


[1] Quelle: Schattenbericht Kindersoldaten: https://unter18nie.de/wordpress/wp-content/uploads/2022/12/tdh_Schattenbericht_Kindersoldaten_DE_final_web.pdf

[2] Laut dem Bericht des Wehrbeauftragten stieg die Zahl strafbarer sexueller Übergriffe, die von der Bundeswehr registriert wurden, 2017 im Vergleich zum Vorjahr fast um das Doppelte auf 235 Fälle, darunter 19 Vergewaltigungen oder versuchte Vergewaltigungen. Im Jahr 2018 gab es einen erneuten deutlichen Anstieg um 23 Prozent auf 288 Fälle.

[3] Nach in den Medien sogenannten „Gewaltmärschen“ im Jahr 2017 und 2018 mussten mehrere junge Bundeswehrrekrutinnen und -rekruten in die Intensivstationen von Krankenhäusern eingeliefert werden, ein Rekrut starb. In allen Fällen spielte übertriebener militärischer Drill und Fehlverhalten der Vorgesetzten eine Rolle. Quelle: Studie „Why 18 matters“: http://www.kindersoldaten.info/wp-content/uploads/2019/02/Why18matters_dt_Feb2019_tdh_DFG_KNH_GEW_web.pdf